Pierre

ChchchchchchchchGRGRGRGRGRGRGRG …
GRGRGRGRGRGRGRGRGRGRGRGchchchchchchchchch … fffffchchchffffffchchchffffffchchch … fffffchchchfffffchchchffch (…)

Es war unerträglich.
Dieses Geräusch kroch wie ätzender Rauch aus dieser undurchdringlich dunklen Ecke, fraß jeden Zentimeter Ruhe und schwoll in der trägen Luft zu einem Inferno an markerschütternden Tönen. Pierre war verzweifelt. Wie lange ging das schon so? 

Chchchchchchfüüüüüüüüüüüüüüüüühfüüüüüüüüüüüüüh. 

Ah, ein neuer Ton. Klang noch idiotischer als die anderen. Traf zwar nicht die gleichen Nerven, war aber nicht minder begabt, was das Mark erschüttern anbetraf. In Gedanken ging Pierre die Varianten dieser widerlichen Tonleiter durch. Das meist einleitende ffffffffffffffffffffffffffffffffffffff, die dann folgenden ffffffchchchffffffchchchffffffchchch- Phasen, das anschwellende grgrgrgrgGRGRGRGR Intermezzo und schließlich der bizarre chchchchchchchGRGRGRGRGRGR Refrain. Man konnte diesen grausamen Lauten, die so eifrig an Pierres Verstand rüttelten, alles vorwerfen – aber sicher keine Unregelmäßigkeit. 

Vielleicht war das auch das Groteske an dieser Sache. Nach den ersten zwei bis drei Wiederholungen wusste man, wie es weiterging. Man wartete praktisch auf den nächsten Ton. Man lauerte, gotterbärmlich und mürbe. Man lechzte danach, dass das ffffffchchchffffffchchchffffffchchch endlich das ffffffffffffffffffffffffffffffffffffffff ablöste, hielt den Atem an, kurz bevor das chchchchchchchGRGRGRGRGRGR erklang. Von Schleife zu Schleife wurde jede Nuance bekannter, jedes Fiepen und Pfeifen und Gurgeln und Röhren geradezu übelerregend vertraut. 

Übel, ja. Pierre war inzwischen richtig übel. Sein Kopf wollte platzen, in seinem Bauch schäumte die Wut. Seine Augen tränten vor Anstrengung, seine Sinne waren vernebelt. Alle, außer seinem Gehör.
Das funktionierte nach wie vor brillant. 

Chchchchchchfüüüüüüüüüüüüüüüüühfüüüüüüüüüüüüüh.

Pierre schüttelt sich. Denk nach, denk nach, denk nach …irgendwas wird dir doch einfallen.
Es muss aufhören. Es muss aufhören. Es muss a u f h ö r e n. Er geht einige Schritte nach rechts, weg von dieser tonproduzierenden, dunklen Ecke. 

Chchchchchchfüüüüüüüüüüüüüüüüühfüüüüüüüüüüüüüh.
Gut, dann nach links. Angriff war schon immer die beste ….

Chchchchchchfüüüüüüüüüüüüüüüüühfüüüüüüüüüüüüüh.
Nach vorne.

Chchchchchchfüüüüüüüüüüüüüüüüühfüüüüüüüüüüüüüh.
Nach hinten.

Chchchchchchfüüüüüüüüüüüüüüüüühfüüüüüüüüüüüüüh.
Das war zuviel. Er musste weg. 

Pierre beginnt zu laufen.
Ohne Ziel, ohne Idee. Nur laufen. Weg. Er läuft und läuft und läuft.

Das ks ks ks ks seiner Schritte mischt sich nun zeitweise mit dem chchchchchchGRGRGRGRGR und einen kurzen, hoffnungslosen  Moment lang kämpfen die beiden jeweils gegeneinander an.
Sein ks ks ks ks verliert jedes Mal.

Vor Erschöpfung mehr taumelnd als wirklich gehend läuft Pierre seinem Schmerz davon, sein Kopf dröhnt schlimmer als je zuvor und seine untrainierten Beine zittern. 

Klong. 

Das war der Spiegel. Der Spiegel? Wie konnte er gegen den Spiegel laufen? Gegen den Spiegel, neben dem er gestartet war? Nein. Das durfte nicht wahr sein. Bitte nicht. Er war im Kreis gelaufen. Meter für Meter, Runde für Runde. Dass er nicht eher gegen dieses Ungetüm geknallt war, hatte er nur dem Umstand zu verdanken, dass seine anfänglichen Runden straffer, klarer und somit etwas kleiner waren. 

Ffffffchchchffffffchchchffffffchchch.
Es hörte einfach nicht auf, es hörte nicht auf.

Mit aller noch verbliebenen Konzentration besinnt sich Pierre auf seine ruhige, ausgeglichene, unerschütterliche Mitte. Er schleppt sich mit letzter Kraft nach oben, jede Faser seines Körpers ist dem Zerreißen nah. Er schließt die Augen, verlagert sein gesamtes Körpergewicht mit äußerster Vorsicht und sehr, sehr behutsam auf seine Fußspitzen und verliert sich ganz und gar in dieser königlichen Balance. Mit der gleichen Vorsicht verlagert er er sein Gewicht zurück und atmet tief in den Bauch. Vier Mal wiederholt er diese für einen Außenstehenden womöglich gewöhnungsbedürftige aber für ihn stets heilsame Zeremonie. 

Dann ist er bereit. Stark. Mutig. 
Komm Ton, komm. Leg dich mit mir an. 

Pierre hält die Luft an. Gleich, gleich war es soweit. Der nächste Laut würde jeden Moment kommen und über ihn hinwegrauschen als habe er kein Gehör. Er war größer als das Geräusch. Stärker. Überlegener. Komm doch. Komm schon. Komm.

Er verharrt inzwischen fast eine Minute mit angehaltenem Atem. 
Es MUSSTE  jeden Moment kommen. 

Jeden Moment. Jeden …. 

Wo war es? 
Pierre zuckt, schüttelt sich erneut und atmet so leise aus, als hätte seine Lunge jahrelang für diesen Zweck geübt.

Stille.
Immer noch.

Nach wie vor.

Für einen winzigen Augenblick war er versucht, nach diesem überfälligen Laut zu lechzen, nur für einen winzigen Augenblick. Sekunden verstrichen. Dann Minuten. Vielleicht drei? Vielleicht sieben? Pierre spürt, wie sich jeder einzelne Muskel seines Körpers entspannt.

Stille.
Immer noch.

Nach wie vor.

Pierre zittert vor Erleichterung.
Jetzt die Müdigkeit zulassen. Lass sie kommen. Nicht an das Geräusch denken, nicht lechzen.

Nur noch schlafen. Schlafen. Komm Schlaf, hol mich. 
Ich bin bereit, ich bin bereit, ich bin … bereit.

Pierre genießt diesen unbeschreiblichen Moment zwischen dem letzten, kurzen Zucken des Bewusstseins und dem weichen fedrigen Nebel des Schlafes. Ja …

I  W I L L  S U R V I V E …. 
Pierre erschrickt so sehr, dass er um ein Haar nach hinten kippt.

Mit der unerklärlichen Intuition eines völlig vernebelten, schlaftrunkenen Gehirns macht er eine Gegenbewegung und gewinnt im letzten Moment seine Balance zurück.

(….) O F  M Y  B R O K E N  H E A R T …
brüllt die Frauenstimme weiter, eine Mischung aus Kettensäge und Platzregen. 

Pierre hatte nicht die geringste Ahnung, wie ein derart infernalischer Lärm aus einem so kleinen, harmlos aussehenden Würfel mit roten Ziffern kommen konnte.

B L I T Z. Gleißend helles Licht erfüllte den Raum und schießt mit tausend Nadelstichen in Pierres inzwischen schreckgeweitete Augen. Die dunkle, tonproduzierende Ecke ist jetzt ebenfalls hell.

Und sie bewegt sich.
Genaugenommen kommt ihr Inhalt direkt auf Pierre zu. 

Bis er genau vor ihm steht.

„Ja Pierre, mein süßes Zuckerschätzchen, guten Morgen, na wie guckst du denn heute? Hat dein dummes, dummes Herrchen gestern Abend vergessen, deinen Käfig ins andere Zimmer zu bringen? 

Und du bist heute schon SO früh auf?“

Fiep. 
Arschloch.